12.11.2018
Gastbeitrag von Thomas Milic (Institut für Politikwissenschaft, UZH)
Im Schnitt nimmt weniger als die Hälfte der Stimmberechtigten an eidgenössischen Urnengängen teil, bei kantonalen und lokalen Abstimmungen liegt die Beteiligungsrate in der Regel noch tiefer. Diese chronisch tiefe Partizipation wurde und wird oftmals wortreich bedauert und sie steht im Gegensatz zum Ideal der sogenannten partizipativen Demokratietheorie: Die Beteiligung aller an Volksentscheiden. Doch nicht alle teilen diese Haltung. Die Verfechter der elitären Demokratietheorie, etwa der Philosoph Joseph Schumpeter, argumentierten, dass es für das Funktionieren einer Demokratie nicht schädlich, sondern im Gegenteil gar förderlich sei, wenn sich bloss eine zahlenmässig geringe, aber hochinformierte Minderheit beteilige. Diese «elitäre» Sichtweise ist gerade in der basisdemokratischen und volksnahen Schweizer Politik wenig populär bzw. kaum jemand wagt es, sich offen zu dieser Sichtweise zu bekennen. Die Reaktionen nach eidgenössischen Urnengängen offenbaren jedoch, dass diese Sichtweise wohl weiter verbreitet ist als es den Anschein macht. Denn nach Abstimmungen argumentiert die unterlegene Seite immer wieder, dass das Elektorat zu wenig gut informiert war oder –im Endeffekt läuft auch dies auf unzureichende Informationen hinaus – bewusst irregeführt wurde. Ab und an wurden gar Wiederholungsabstimmungen gefordert, die den «falschen», weil uninformierten Entscheid korrigieren sollen. Letzteres zeigt, dass man die Legitimität eines Volksentscheids anzweifelt, wenn er auf der Grundlage ungenügender Informationen gefällt wurde.
Das Problem dabei ist: Zwischen Beteiligungshöhe und Informiertheitsgrad besteht wahrscheinlich oftmals ein negativer Zusammenhang. Klar, ideal wäre, wenn sich alle beteiligen würden und alle zugleich bestens informiert wären. Realistisch ist jedoch die Annahme, dass sich mit hoher Beteiligung die Entscheidqualität verringert. Das ist natürlich kein Naturgesetz, aber wohl häufiger als das Gegenteil davon. Man denke dabei vor allem auch an den Umstand, dass an Urnengängen oftmals über mehrere Vorlagen gleichzeitig abgestimmt wird. Wir wissen, dass die Beteiligungsrate zwischen den Vorlagen eines Urnenganges nur minim variiert, was wiederum bedeutet, dass eine erhebliche Zahl sich zu Vorlagen äussert, zu welchen sie sich nie geäussert hätte, wäre nicht gleichzeitig über eine andere, sie weitaus stärker bewegende Sachfrage befunden worden. Am besten sei anhand eines Beispiels erklärt, was dies heisst: Wer sich beispielsweise entschied, ausnahmsweise an der Abstimmung über die Durchsetzungsinitiative (DSI, 28. Februar 2016) teilzunehmen, weil jene Vorlage ihn oder sie ausserordentlich bewegte, hat in der Regel auch über die restlichen drei nationalen Vorlagen befunden. Die Beteiligung zwischen der DSI (63.7%) und der Nahrungsmittelspekulation-Initiative (62.9%) unterschied sich um gerade mal 0.8 Prozentpunkte. Diese Beispielsperson hätte sich jedoch kaum an jener Vorlage beteiligt, wenn eben nicht gleichzeitig über die DSI abgestimmt worden wäre. Der Punkt ist: Es ist davon auszugehen, dass sie sich auch nicht sonderlich intensiv mit der Nahrungsmittelspekulation (oder den anderen beiden Vorlagen vom 28.2.2016) auseinandergesetzt hat, denn teilgenommen hat unsere Beispielsperson ja bloss wegen der Zugpferd-Vorlage DSI. Die hohe Beteiligung bei der DSI, so die Vermutung, könnte demnach Auswirkungen auf die Entscheidqualität der anderen drei Vorlagen gehabt haben. Schadet demnach eine hohe Beteiligung der Entscheidqualität bei Volksabstimmungen? Ich habe dies am Beispiel des Urnenganges vom 28. Februar 2016 genauer angeschaut, wo über die hochkontroverse DSI abgestimmt wurde, welche eine aussergewöhnlich hohe Beteiligung auslöste (63.7%), aber gleichzeitig auch über drei weniger konfliktreichen Vorlagen.
Zunächst aber zum Begriff Entscheidqualität. Entscheidqualität ist ein etwas unpräziser Begriff mit verschiedenen Dimensionen. Eine Dimension ist beispielsweise der Umstand, wie informiert die Stimmenden waren. Tatsächlich waren die Stimmenden bei der Nahrungsmittelspekulation, der Heiratsstrafe und der zweiten Gotthardröhre wie erwartet weniger gut informiert als bei der DSI. Aber das heisst noch nicht notwendigerweise, dass diese Stimmenden auch falsch – d.h. entgegen ihren eigentlichen Präferenzen – gestimmt haben. Die politische Kognitionsforschung hat gezeigt, dass auch dürftig informierte Wählende dank mentalen Entscheidhilfen wie zum Beispiel Parteiparolen, Regierungsempfehlungen, etc. imstande sind, einen rationalen, «richtigen» Entscheid zu fällen. Mit anderen Worten: Selbst wenn diese schlecht Informierten gut informiert gewesen wären, so hätten sie genau gleich abgestimmt. Im Prinzip ist diesen Stimmenden gar ein Kränzchen zu winden: Sie haben mit minimalem kognitivem Aufwand genau dasselbe Ziel erreicht wie Stimmende, die sich intensiv mit der Materie auseinandersetzten. Traf dies auch beim Urnengang vom 28. Februar 2016 zu? Genau das habe ich am Beispiel der Nahrungsmittelspekulation und mit Hilfe des Konzepts des «correct votings» untersucht. Dabei standen vor allem jene im Fokus, die sich primär wegen der DSI beteiligten und ansonsten kaum teilgenommen hätten. Denn diese standen, wie oben ausgeführt, am ehesten im Verdacht, die Entscheidqualität zu drücken. Dieser Verdacht ist indessen kaum begründet: Rund elf Prozent der Stimmenden stimmten bei der Nahrungsmittelspekulation gemäss meiner Erhebung falsch. Dieser Anteil ist nun bei den «Gelegenheits-Urnengänger», also jene, die sich kaum je beteiligen, aber bei der DSI für einmal zur Urne gingen, nicht viel höher. Das Ergebnis wurde im Falle der Nahrungsmittelspekulation durch die Teilnahme der «Gelegenheits-Urnengänger» nicht verfälscht. Das geht weiter auch daraus hervor, dass sich keines der drei Abstimmungsergebnisse, über die am 28. Februar 2016 neben der DSI befunden wurde, wesentlich geändert hätte, wären nur jene zur Urne gegangen, die sich auch genuin für diese Vorlage interessierten.
Eine hohe Beteiligung spült zwar auch dürftig informierte Stimmberechtigte an die Urnen, die nur wenig Interesse an jenen Sachfragen haben, die neben der Zugpferd-Vorlage auch noch vorgelegt werden. Aber sie scheinen mithilfe von allerlei mentalen Abkürzungen oftmals imstande zu sein, gleichwohl einen (halbwegs) vernünftigen, mit ihren Präferenzen übereinstimmenden Entscheid zu fällen. Mehr Beteiligung ist also auch mehr Legitimität.
Dr. Thomas Milic ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lehrbeauftragter beim Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich. Er ist auch Projektmitarbeiter am ZDA.
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