Aarau
(AG), 20‘200 Einwohner
Fernwärme reduziert zwar den Heizölverbrauch – doch die Klimaanlagen im Sommer benötigen weiterhin viel Strom. In Aarau (AG) liefert das neue Fernenergienetz daher nicht nur Wärme, sondern auch Kälte.
Projektingenieurin Corinna Hunziker überwacht den Bau des Fernenergienetzes: Die Leitungen für Fernwärme und –kälte werden parallel verlegt. (Bild IBA)
Projektingenieurin Corinna Hunziker und Betriebstechniker Reto Knechtli in der Energiezentrale Kasionpark: Ammoniakwärmepumpen entziehen dem Grundwasser Energie und produzieren damit 75 Grad heisses Warmwasser sowie Kaltwasser fürs Fernenergienetz. (Bild IBA)
«Aarauer
Revolution von 2012 bis 2020»? – dieses Ereignis sucht man bei Wikipedia noch
vergebens. Wer Genaueres in Erfahrung bringen will, muss sich an den Ort des
Geschehens begeben – und zwar zum Hauptsitz der Industriellen Betriebe Aarau
(IBA) direkt hinter dem Bahnhof. Dort wird man vom «Anführer» und CEO
Hans-Kaspar Scherrer freundlich in Empfang genommen und sogleich beschwichtigt:
«Nein, nein, wir proben hier keinen Aufstand, sondern setzen einen breit
abgestützten Volksentscheid um.» Pionierhaft gehe es in Aarau aber schon zu und
her, räumt Scherrer schliesslich ein, während er bedächtig im kommunalen
Energieplan blättert. Dieses 64-seitige Strategiepapier konkretisiert die
«Zielsetzung der 2000-Watt- und 1-Tonne-CO 2 -Gesellschaft», welche
die Stimmbürger im Frühling 2012 beschlossen. Bis 2020 wird die Senkung des
fossilen Heizenergieverbrauchs von aktuell 85 Prozent auf unter 60 Prozent
angepeilt. Das dafür nötige Fernenergienetz soll nebst Wärme auch Kälte
bereitstellen. Eine solche Fernkälteversorgung von der Grösse, wie man sie
zurzeit mit dem Wärme- und Kälteverbund Kasinoareal realisiere, sei schweizweit
einzigartig, betont Scherrer. In der Tat umfasst der Versorgungsperimeter ein
Gebiet von rund 26 Hektaren im Stadtzentrum zwischen Bahnhof und Aare. Hier
sind in einem ersten Schritt 45 Gebäudeanschlüsse für Wärme und 30 für Kälte
geplant; Betriebsaufnahme ist im Herbst 2014. In den nächsten zehn Jahren
sollen dann fünf weitere Fernenergienetze entstehen. Bereits weit gediehen ist
der südlich des Bahnhofs gelegene Energieverbund Torfeld, der ab 2015 ebenfalls
Wärme und Kälte anbieten wird.
Um die zentral
hergestellte Energie zur Kundschaft zu bringen, ist allerdings eine komplexe
Infrastruktur nötig. Diese umfasst nicht nur Leitungen für Fernwärme, sondern
auch ein separates Netz für Fernkälte. Die beiden Rohrsysteme verlaufen
parallel im Untergrund und werden auch in ein und demselben Arbeitsgang
verlegt, doch anschliessend funktionieren sie völlig unabhängig voneinander.
Beide Netze bestehen aus je einer Leitung für die Zufuhr und den Rücklauf der
Fernwärme beziehungsweise -kälte. Somit können die Kunden jederzeit nach Bedarf
gleichzeitig Wärme und Kälte beziehen. «Die Fernkälte ist unser Shootingstar.
Vor allem die Grosskunden reissen sich um dieses Produkt», erklärt Scherrer.
Der Grund seien die immer besser gedämmten Gebäude, aus denen sich die Hitze im
Sommer nur noch mit grossem Aufwand abführen lasse. Zwar seien die Decken
vieler moderner Bürobauten, Supermärkte und Kinos inzwischen mit Kühlelementen
bestückt, in denen kaltes Wasser zirkuliere. «Diese Wasserkreisläufe müssen
aber mit teurem Strom gekühlt werden. Im Vergleich dazu stellt unsere Fernkälte
eine unschlagbar kostengünstige Alternative dar», meint Scherrer und sagt
dieser neuartigen Gebäudekühlung eine grosse Zukunft voraus.
Zentraler Produktionsstandort der Fernenergie ist das dritte Untergeschoss des Kasino-Parkhauses. Dort stehen riesige Ammoniakwärmepumpen. Diese funktionieren ähnlich wie der Kühlschrank zuhause, der Milch und Käse die Wärme entzieht und sie auf der Rückseite als Hitze in die Küche abstrahlt. Mit den Ammoniakwärmepumpen im Kasino-Parkhaus werden jedoch statt ein paar Lebensmittel grosse Mengen von Aaregrundwasser gekühlt. Und die Abstrahlhitze verpufft nicht in der Umwelt, sondern dient zur Aufheizung des Fernwärmekreislaufs. Allerdings stammt nur ein Teil der benötigten Fernwärme aus dem Grundwasser. Denn daneben wird auch das 45-grädige Fernheiz-Rücklaufwasser sowie das 16-grädige Rücklaufwasser der Fernkühlung durch die Ammoniakwärmepumpen geleitet. «Mit dieser Nutzung der Abwärme aus dem Rücklauf lässt sich je nach Jahreszeit bereits ein Grossteil der benötigten Fernenergie erzeugen», so Scherrer. Der Strom für den Betrieb der Wärmepumpen stammt aus dem IBA-eigenen Aarekraftwerk. Dabei wird eine sogenannte Arbeitszahl von vier erreicht. Das heisst, dass mit jeder Kilowattstunde Strom vier Kilowattstunden Fernwärme beziehungsweise Fernkälte generiert werden.
Insgesamt 15'000 Megawattstunden Wärme- und Kälte wird die Jahresproduktion der Kasino-Fernenergie im Endausbau betragen – das sind fünf Prozent des gesamten Heizenergiebedarfs der Stadt Aarau. Die Investitionen in Netz und Anlagen belaufen sich auf 18 Millionen Franken. Als Glücksfall erwies sich, dass man mit dem Untergeschoss des Kasino-Parkings auf eine bestehende Infrastruktur zurückgreifen konnte. Überdies verläuft von dort ein alter Zugangsstollen quer unter der Stadt direkt zum Grundwasserbrunnen am Ufer der Aare. Solche umnutzbaren Bauten bestehen beim zweiten Fernenergieverbund Torfeld/Bahnhof Süd zwar nicht. Dafür kann man dieses Neubaugebiet von Anfang an durchgehend für Fernenergie konzipieren. Im Torfeld sind Investitionen von 51,5 Millionen Franken geplant. Damit sollen weitere 47'000 Megawattstunden Wärme und Kälte pro Jahr erzeugt werden, was den Heizenergiebedarf Aaraus noch einmal um 15 Prozent reduzieren wird. Zusammen lassen sich mit den beiden Wärmeverbünden jährlich etwa 4000 Tonnen Heizöl beziehungsweise 11'000 Tonnen CO 2 einsparen. Zur Abdeckung der Spitzenlast wird jeder Verbund mit einem schnellen Erdgaskessel bestückt. Holzfeuerungen seien für einen solchen Hott- und Hü-Betrieb zu schwerfällig, erklärt Scherrer: «Wir planen aber, im Süden der Stadt einen separaten Energieholzverbund zu erstellen, damit auch die lokale Biomasse eingebunden werden kann.»
Der Absatz der Fernenergie bereitet Scherrer keine Sorgen: «Um rasch eine wirtschaftliche Auslastung unserer Leitungsnetze zu erreichen, fokussieren wir am Anfang auf Grosskunden.» Über die Jahre sei dann mit weiteren Abnehmern zu rechnen, deren Ölheizungen ausgedient hätten. Scherrer: «Mit 16 Rappen pro Kilowatt fährt man mit Fernwärme mindestens einen Viertel günstiger als mit Öl; bei der Fernkälte schneiden wir noch besser ab.» Ein Anschlusszwang ist daher derzeit nicht erwünscht. Auch Subventionen braucht es keine; die Kunden bezahlen die vollen Kosten. Diese setzen sich bei der Wärme aus 50 Prozent Infrastrukturkosten, 30 Prozent Stromkosten für Wärmepumpen und Zirkulation, zwölf Prozent für Wartung und Unterhalt sowie acht Prozent für Erdgas-Spitzenlast zusammen. Bei der Fernkälte fällt das Erdgas weg. Hier machen die Infrastrukturkosten 75 Prozent aus, zehn Prozent sind Stromkosten, 15 Prozent entfallen auf Wartung und Unterhalt. Diese Kostenschlüssel illustrieren auch die Bedeutung der Fernwärme für die Schweizer Wirtschaft. Scherrer: «Sieht man einmal vom Gasimport für die Spitzenlast ab, fliesst das Geld in Aufträge für hiesige Anlagenbauer, Planer, Ingenieure, Bauunternehmen und Handwerker. Allein bei den IBA sind fünf Arbeitsplätze entstanden.»
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